Dienstag, 22. April 2008

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5. Rundbrief: Der Abschied April 2008

Sehr geehrte UnterstützerInnen, liebe Familie, Freunde und interessierte Leser,

ich hoffe sehr, dass sie und ihren lieben sich in den letzten 18 Monaten an guter Gesundheit und Zufriedenheit erfreuen konnten.

Für mich waren die letzten 1 ½ Jahre eine der lehrreichsten und schönsten Zeit meines Lebens. Dessen Ende ich einerseits schwer und traurig aufnahm, aber anderseits mit gossen Zukunftserwartungen entgegen ging.

Die Wochen davor waren voll mit Gefühlsschwankungen und Dingen, die noch erledigt werden mussten.

Für meine Mitarbeit in der Dorfschule wurde mir herzlich mit einem extra Schulfest gedankt.

Vorfuehrung

Ein spezieller Gottesdienst mit Gedichten, Tanzaufführungen, Gesang und Danksagung verschiedener Schüler wurde abgehalten. Gerührt verließ ich die Kirche um meine letzte Nacht im Kinderheim zu verbringen.

Tanz

Am morgen bereiteten meine Kolleginnen und ich ein besonderes Frühstück (mit Nutella, Kakao, Pfannkuchen und Fruchtsalat mit Eis) vor. Die Kinder waren begeistert und nach weiteren kleinen Abschiedsaufführungen musste ich mich auf dem Weg machen. Der Abschied fiel mir sehr schwer, die gossen traurigen Augen und die unzähligen Fragen, wieso ich denn nicht einfach hier bleiben könne, belasteten mich sehr.

Besonders das Gefühl plötzlich die Kleinen nicht mehr täglich zu sehen und im Heim zu arbeiten, stimmte mich nachdenklich.

Trotz der geliebten Wochen, muss ich zugeben, dass der Heimalltag durchzogen war von schweren Problematiken. Die chaotische Struktur, die den Kindern keinen Halt gab. Das komplizierte Verhältnis zwischen Direktion und Arbeiterschaft, die eine gesunde Mitarbeit des Personals oft verhinderte, beschränkte oder gar unmöglich machte. Den unzähligen Mängel in Schule und Heim, wodurch keinem die nötige Aufmerksamkeit geschenkt werden konnte. Die ungewisse Zukunft der Kinder, die teilweise in zweifelhafte Familienkombinationen zurück gegeben werden oder bei denen die Altersgrenze immer näher rückt, und ma immer noch keine genaueren Pläne hat. Die schlampige Politik des Ministeriums, die uns oft genug an die Grenzen der Geduld brachten. Und noch so viel mehr....

Während meiner Dienstzeit belastete mich das Gefühl nicht wirklich etwas gegen die essentiellen Probleme ausrichten zu können. Doch das jetzige Gefühl, alle Heimbewohner mit der riesen Last alleine zu lassen, scheint noch viel schwerer zu ertragen.

Feier

Dennoch blicke ich auf eine Zeit, voll gepackt mit wunderschönen Erlebnissen, Begebenheiten und Lernerfahrungen, zurück. Die ich trotz aller Schwierigkeiten und auch traurigen Erlebnissen, nie missen möchte.

Ich hoffe auch diesmal ihr Leseinteresse zu wecken, bei meinem fünften und zugleich auch letzten Rundbrief.

Anregungen und Kommentare sind mehr als willkommen! Die persönlich müssen sich jedoch noch ein wenig gedulden. Mit dem zurück kommen darf ich mir nämlich glücklicherweise noch ein wenig Zeit lassen, und muss somit erst Mitte Juli die Heimreise antreten.

Bis dahin, Viel Spass und Hasta Pronto!
Ihre Sophie Streck


Der-Abschied

Zwei Nachbarn- zwei Welten

Nach Dienstende begleitete ich meine Mutter nach Costa Rica. Mit dem Bus überquerten wir die Grenze und schon vom Fenster aus zeichneten sich die markanten Unterschiede ab. Wunderschön angelegte Gärten, gut ausgebaute Straßen, sauber und ordentliche Dörfer, moderne Autos und luxuriöse Autobusse.

Angekommen in San Jose, der Hauptstadt kam ich aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Unser Hotel lag gegenüber dem wunderschönen Nationaltheater, mitten im Stadtzentrum. Unzählige Menschen tummelten sich in den verschiedenen Einkaufsstraßen, besuchten mehrstöckige Kaufhäuser oder international bekannte Restaurants.

Für uns eigentlich nichts besonderes, aber nach 18- Monate Nicaragua Erfahrung- überwältigend! Nichts ist vergleichbar mit dem komplizierten, heißen, schmutzigen und stickigen Straßennetz von Managua. Ein wirkliches Stadtzentrum existiert dort nicht. Angst vor Überfällen, große Entfernungen, halsbrecherischer Verkehr und Arbeitsstress hält die Einheimischen fern von den Straßen. Armut, Müll, Gestank, gelbe Staubflächen und vergitterte Häuser stellen das Stadtbild.

In Gedanken vergleiche ich das Gesehene mit Nicaraguanischen Erzählungen „Costa Rica ist wohlhabend, die haben keine Probleme mit Armut“, „da gibt’s doch viel zu viel Tourismus, die haben ihr Land an die USA verkauft“, „die Einheimischen sind unfreundlich!“, „wegen der Arbeit bin ich dort, wir erledigen die Drecksarbeit, verdienen besser, werden jedoch behandelt wie die letzten.....“

Doch auch von den „Ticos“ (Einheimische in Costa Rica) spürt man den Nachbarhass deutlich „die leben doch wie in Afrika“, „deren Präsident ist der größte Voll-Idiot, sie sind selbst Schuld an ihren Problemen“, „die bekommen nichts gebacken, deshalb kommen sie alle hier her zum arbeiten“, „sind doch immer nur am streiten, lästern und Unruhe stiften...“

Viele Ticos schauen mich verwundert an, wenn ich von meinen 18 Monaten berichte. Für sie unverständlich, die meisten trauen sich noch nicht mal für ein paar Urlaubstage in das chaotische Gebiet. Genüsslich fragt man mich über die vielen Problematiken des Landes aus und fühlt sich schnell in der eigenen Meinung bestätigt.

Costa Rica und Nicaragua stehen schon seit Jahrzehnten auf dem Kriegspfad, so wie meistens fand auch dieser Streit seinen Anfang mit Grenz Unklarheiten. Über die Jahre verstärkte er sich durch Kulturunterschiede, Einwanderungsproblematik und einseitigen Wirtschaftswachstum. Wer Recht oder Unrecht hat, möchte ich mir nicht zutrauen zu urteilen.

Doch in einem muss ich Costa Rica Recht geben, sie können stolz auf sich sein! Das kleine Land ist das reichste von Mittelamerika. Der Tourismus, als wichtigste Einnahmequelle, wurde schnell erkannt, perfekt ausgebaut und treibt das Land seither steil nach oben. Ticos blicken auf eine ordentliche Geschichte, mit wenigen Skandalen und einer guten Politik zurück. Sie sind führend in der Ökoenergiebeschaffung, müssen sich weder mit Wasser- noch Energiemangel abgeben. Sie besitzen eine gute Infrastruktur, eine angesehene Mindestlohngrenze, die Erziehung und Bildung ist vorbildhaft, die Bevölkerungsarmut ist eingeschränkt, und vieles mehr.

Nun sitze ich in einer dieser perfekt angelegten Hotelanlage und denke zurück an mein zwar chaotisch, jedoch geliebtes Nicaragua.

Schon die ersten Eindrücke in Costa Rica stimmten mich traurig. Für mich ist Nicaragua immer etwas ganz besonderes gewesen. Die atemberaubende Natur, die aktiven Vulkane, die unvergleichbare Artenvielfalt von Flora und Fauna, die interessante Geschichte, die speziellen Sitten und Bräuche, die wunderschönen Kolonialstädte, die herzlichen Menschen und noch soviel mehr was ich in 18 Monaten entdecken durfte.

Costa Rica ist der direkte Nachbar von Nicaragua, die Beschaffenheit der Länder ähnelt sich sehr. Costa Rica hat sich durch die Jahre in ein Tourismus Paradies entwickelt, viele Einheimische sprechen Englisch, man entwickelt sich Energie technisch weiter und das wichtigste die Menschen haben eine Arbeit! Nicaragua ist von einer solchen Entwicklung jedoch weit entfernt. Zu schwer lastet die Geschichte auf der Bevölkerung, zu groß sind die Skandale und Korruptionsfälle der Politiker. Armut zieht Missmut und Verbrechen mit sich. Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit äußert sich in völliger Vermüllung und Vernachlässigung gegenüber der Landschaft und dem Trinkwasser. Zukunftsüberlegungen und klares Denken versinken im allgemeinen Unglücks glauben. Bodenschätze werden ausgebeutet, zurück gebliebene Landschaften werden vernachlässigt oder zerstört. Besondere Tierarten gelten als Delikatessen, werden ausgerottet, nicht geschützt.

Wenn man Costa Rica sieht ist es schwer zu begreifen, wieso der Unterschied zwischen den Beiden so enorm sein muss. Doch vielleicht bleibt auch Hoffnung, dass Einestages über die Revalitätskämpfe hin weggesehen werden kann und man sich gegenseitig nach vorne hilft.

Ochsenkarren

Abschlussbericht

Im Gegensatz zu meinen vorherigen Berichten habe ich diesmal den Schwerpunkt auf eine allumfassende Beschreibung meiner 18-monatigen Tätigkeit gesetzt. Die Hauptaktivitäten teilte ich in Abschnitte ein und konzentrierte mich bei jedem einzeln auf Erfolge, Rückschläge und Veränderungen. Zusammenfassend möchte ich sagen, daß der Austausch für mich äußerst erfolgreich war und unvergesslich in meinem Herzen bleiben wird.


Beschreibung der Tätigkeit

Kinderbetreuung ( Freizeitplanung, Seelischer Beistand, Unterstützung bei allgemeinen Heimaufgaben und Pflichten)


Meine Hauptaufgabe war, die Kinder im Alltag zu begleiten, Ihnen Hilfestellung zu geben und ihre freie Zeit sinnvoll zu gestalten.

Die besten Ergebnisse erzielte ich auf der Vertrauensbasis; hier konnte man schnell eine Verbesserung im Verhalten vieler Kinder entdecken. Besonders die vielen Freizeitaktivitäten (Gruppenspiele, Spaziergänge, Freizeit Angebote...) gaben ihnen Raum, sich zu entfalten und auszutoben, so das sie sich sowohl kreativ weiter entwickeln konnten, als auch ihre große Energie ausleben durften.

Als besonderen Erfolg auf der Freizeit ebene empfand ich es, als einige Erzieher mich bei meinen Bemühen aktiv unterstützen und durch Eigeninitiative ein Weiterführen der neuen Angebote andeuteten. Leider konnte ich diese Entwicklung nicht bei allen miterleben. Einerseits aufgrund der großen Überbelastung nachvollziehbar, andererseits aufgrund der Wichtigkeit jedoch deprimierend.

Kreative Hochleistungen erzielte ich mit den Kindern bei vier großen Wandgemälden, die das Heim seither schmücken und bei wichtigen Fundraising Projekten, die in Deutschland und den USA auf großen Anklang stoßen.

Gemaelde

Bei gemeinsamen Aktivitäten war zusätzlich bemerkbar, dass Kinder lernten sich selbst mehr einzubringen, Ideen zu entwickelten und diese später gemeinsam mit der Gruppe durchführten. Auch deren unerschöpfliche Freude, an allen Angeboten teilzunehmen, bestätigte mich in meinem Handeln.

Durch meine besondere Rolle, als Freundin, bzw. große Schwester- Bezugsperson öffneten sich mit der Zeit immer mehr Türen. Die steigende Anzahl der Kinder, die freiwillig auf mich zu kamen um Rat zu suchen und diesen auch zu befolgen, bestätigte dies. Auch bei Ermahnungen und Hinweise hörten sie mit der Zeit schneller hin und befolgten die Anweisungen. Trotzdem muss ich zugeben, dass ich die Freundschaftsbasis immer der Erzieherbasis gegenüber bevorzugt habe, so dass es mir teilweise schwer fiel Kinder zu ermahnen und diesem dann manchmal an Überzeugungskraft fehlte. Aber der Weg war von mir selbst gewählt und ich war immer dankbar für die Freiheit, teilweise anders reagieren zu dürfen.

Die enge Vertrauensbasis brachte jedoch auch Schwierigkeiten mit sich. Aufgrund der beengten Wohnsituation empfand ich es besonders schwer, Grenzen zu setzen. Trotz aller Liebe legte ich Wert auf das Einhalten von allgemeinen Heimregeln, versuchte den Kindern nicht zu viel Freiraum zu geben und das Vertrauen nicht überhand gewinnen zu lassen. Meine Kollegen halfen mir mit ihren Erfahrungen und Ratschlägen, die ich immer gerne annahm.

Ausflug-ans-Meer


Englischunterricht (Grundschule 6 Stunden pro Woche, 4 verschiedene Klassen)

Der erste Rückschlag kam prompt. Meine anfänglich hoch gesetzten Erwartungen zerplatzten bereits in den ersten Stunden.

Dennoch genoss ich das Schuljahr und versuchte das Beste aus allen Schwierigkeiten zu machen. Die schlechte Schulsituation forderte mich immer aufs Neue heraus. Ich verbrachte viel Zeit mit der Vorbereitung und Nachbereitung der Stunden. Mein Durchbeißen empfand ich als besonders wichtige Lernerfahrung und Entwicklung. Letztendlich bin ich stolz darauf, das Jahr kontinuierlich durch gezogen zu haben, und freue mich über die kleinen Ergebnisse die ich noch oft zu hören bekam!

Leider musste ich erfahren, dass die Mittel für einen professionellen Englischlehrer auch dieses Jahr fehlen, sodass der Unterricht auf ein Minimum reduziert, bzw. nicht mehr statt findet.

Betreuung von ausländischen Besuchern (Übersetzungshilfe, Unterstützung und Organisation von Ausflügen, Betreuung von Adoptionsfamilien)

Da das Heim viel ausländische Hilfe erhält und diese besonders aus den USA kommt, war die Heimleitung gern und oft auf meine Englischkenntnisse angewiesen. Ich unterstützte die Kommunikation zwischen beiden Gruppen gerne und mußte oft Informationen über das Internet austauschen. Bei Adoptionsinteressierten wurde ich schnell zur ersten Informationsquelle. Einige begleitete ich zu deren ersten Besuchen beim Anwalt. Zusätzlich durfte ich bei vielen Ausflügen mithelfen oder diese selbst organisieren.

Mit der Zeit wurde ich selbstbewußter und somit wurde auch meine Meinung öfters gefragt. Einerseits liebte ich die Besuche und den Austausch, andererseits wurde ich leider zu oft Zeuge von zweifelhafter oder gar schädlicher „Hilfe“. Zu viele Besuche, Geschenke und Versprechungen beeinflussten die Kinderherzen. Teilweise war es unerträglich für mich, einfach nur zuzusehen und die Veränderung der Kinder deutlich zu spüren. Zu oft musste ich falsches Umsetzen von hohen Spendengeldern und Korruption wahrnehmen.

Meine Beobachtungen bewegen mich noch heute und noch immer bin ich mir nicht richtig bewusst, wie ich mit allem umgehen soll. Ich bin dankbar für den intensiven Blick „hinter die Kulissen“ eines Entwicklungsprojekts und werde mein Bestes Versuchen, das Gelernte eines Tages richtig umzusetzen.

Während meiner Dienstzeit legte ich viel Wert auf Gespräche und Diskussionen zwischen allen beteiligten Parteien und auch wenn dies nicht immer möglich war, bzw. nicht so wie erhofft endete, bin ich dennoch zufrieden und glaube, dass ich Grund zum Nachdenken anregen konnte und bei einigen Veränderungen mit wirken durfte.

In der Zukunft möchte ich weiterhin aktiv bleiben. Und sowohl bei EIRENE, als auch beim deutschen Förderverein mein Engagement zeigen. Besonderen Wert lege ich auf eine intensive Zusammenarbeit mit dem deutschen Förderverein, indem man einen effektiveren Weg findet, wie man unterschiedliche Hilfe besser koordinieren und zusammenführen kann.

Portraits

Die Leitung über das Kinderheim trägt allein eine nicaraguanische Familie, die ihr Büro in Managua hat. Der deutsche Förderverein agiert rein aus Deutschland, und arbeitet mit dem Prinzip „Hilfe zur Selbsthilfe“. Dies bedeutet, dass die Ettlinger Freundschaftsbrücke das nicaraguanische Projekt (ein Kinderheim, vier Schulen und Unterstützung von 45 bedürftigen Familien) zwar finanziell unterstützt, jedoch Entscheidungen und Leitung rein von der nicaraguanischen Familie ausgeführt werden. Aufgrund der einseitigen Berichterstattung galt ich schon während meines Aufenthaltes als wichtige Informationsquelle. Ich berichtete über Veränderungen im Heim, Neulinge und deren Geschichten, besondere Ereignisse und Ausflüge und teilweise auch über meine Arbeit.

Aufgrund der Kulturunterschiede mußte ich mich jedoch stets mit Kritik zurückhalten. Das Bedürfnis, über die vielen Mißstände im Heim und besonders über die Probleme mit der diktatorischen Chefsfamilie zu berichten, konnte ich jedoch nur schwer zurück halten. Bei dieser wagen Andeutung muss ich jedoch die Problematik belassen, da alles andere den Rahmen dieses Briefes sprengen würde.

Mein eigentliches Ziel liegt in der Aufklärung des deutschen Vereins, wodurch ich mir eine Sensibilisierung erhoffe, sodass mein Dienst weiterführende Verbesserung mit sich bringt. Ich habe das innige Gefühl und den starken Willen, mich für meine lieben Kollegen einzusetzen und ihnen aus Ihrer derzeit vorherrschenden Misere der absoluten Willkür herauszuhelfen.

Auf ein qualifizierendes Studium freue ich mich sehr. Oftmals litt ich in meiner Position unter meiner Unkenntnis. Einerseits war ich von allen als gleichwertig anerkannt und geliebt, andererseits war ich nur eine Freiwillige ohne Ausbildung, die zwar Ideen mitbrachte, aber nicht über die Stellung und Macht verfügte, diese gezielt durchzuführen.

Allgemein muss ich aber die Zeit als wundervoll lehrreich beschreiben und besonders die intensive Heimzeit als unvergesslich. Im Team konnte ich mich perfekt einfinden und gewann mit der Zeit eine immer größerer Bedeutung in der Gruppe. Besonders das Verhältnis zu meiner Direktorin war unvergleichbar. Einmal lobte sie mich in hohen Tönen und sagte, dass sie an mir meinen neutralen Charakter am meisten schätzt. Er hätte ihr schon in so vielen Situationen die Augen geöffnet und den richtigen Weg gezeigt. In der gemeinsamen Arbeit zeigte sie mir oft ihr großes Vertrauen, so dass mir viele Extraaufgaben zugeteilt wurden, die sonst bei anderer Verteilung Streit und Eifersucht hervorgerufen hätte.

Von einem guten Verhältnis gegenüber der Chefsfamilie, die das ganze Projekt (Kinderheim, vier Schulen, Unterstützung von 45 bedürftigen Familien) von Managua aus leiteten, kann ich leider nicht berichten. Deren Desinteresse an meinem Dasein, oder besser am allgemeinen Dasein der Heimbewohner stimmte mich oft traurig. Zwar wurde meine Arbeit keineswegs von dieser Familie beeinflusst, doch das Leiden meiner Kollegen und das Ignorieren meiner Mitarbeit schmerzten mich oft. Trotzdem bin ich auch für diese Erfahrung dankbar, die mir die nicaraguanische Wirklichkeit gezeigt hat und mich vieles im Umgang mit dem dortigen Leben und dessen Schwierigkeiten lehrte.

Die Köchin

Den letzten Monat empfand ich als besonders schwierig und traurig. Das Erledigen von letzten Dingen strengt mich an. Ich war oft müde. Wenn ich mit den Kindern zusammen war, musste ich stetig an den Abschied denken. Gedanken an deren Zukunft und Entwicklung, das Heim, die Kollegen, all deren Situation und Lebensumstände, uvm. verfolgen mich. Im letzten Monat wurde zwei meiner liebsten Kolleginnen gekündigt, die ich in meiner letzten Zeit stark vermisste. Zu gerne hätte ich sie in meinen letzten Wochen um mich gehabt. Zum Glück hatte ich die Möglichkeit, sie noch einige Male zu besuchen. Aber das war nicht mehr das gleiche, da wir vorher so lange, so eng zusammen gearbeitet hatten und ihnen ihre Lebensgrundlage auf einmal entzogen wurde.

Am 10. Februar verließ ich Nicaragua, um meine Eltern in Mexiko zutreffen. Der Abschied viel schwer, doch glücklicherweise wurde der Trennungsschmerz durch die Wiedersehensfreude ein wenig gelindert.

Nach meiner Rundreise durch Mittelamerika mit meinen Eltern werde ich noch einige Monate mit einer Freundin in Lateinamerika verbringen. Voraussichtlich werde ich Ende Juli zurückkommen und wenn alles klappt ein Studium im Oktober 2008 beginnen.

Vielen lieben Dank für ihre Unterstützung. Ich bin mir sicher, dass mein Einsatz einiges bewirken konnte und der Austausch auf Beiden Seiten unvergesslich bleiben wird. Mit meiner Entsendeorganisation EIRENE war ich außerordentlich zufrieden und möchte mich auch in deren Namen für Ihre finanzielle Hilfe aussprechen. In Zusammenarbeit mit EIRENE entschieden wir uns gegen eine Weiterbesetzung von Freiwilligen im Heim. Für mich eine schwere Entscheidung, die ich unendlich schade für die Kinder finde, jedoch wichtig aufgrund der vielen Problematiken die im Heim täglich stattfinden und noch keine Anzeichen auf Verbesserung zeigen.

Ich freue mich sehr, Ihnen bald persönlich von allem geschehenen Berichten zu dürfen.

Mit freundlichen Grüßen
Ihre Sophie Streck – 2. April 2008

Trinkstelle

Anhang als PDF-Datei 5-Rundbrief (pdf, 2,424 KB)Anhang
weitere Infos unter http://www.eirene.org

Die Rundbrief 1 bis 3 sind auf dem Server gelöscht und sind über streck-hombergOhm@t-online.de zu beziehen.

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Homepage: www.sophiestreck.twoday.net
Email: sophiestreck@googlemail.com

Mittwoch, 19. Dezember 2007

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4. Rundbrief - Weihnachten 2007

Sehr geehrter Unterstützerkreis,
liebe Familie, Freunde und Bekannte,


schon wieder sitze ich im Dunklen. Schuld sind die kontinuierlichen Stromausfälle, die das Land seit mehr als einem halben Jahr sowohl wirtschaftlich, als auch privat immer tiefer in Abgründe drängt.

In meinen vorherigen Rundbriefen berichtete ich überwiegend von wunderbaren Ereignissen, positiv prägenden Arbeitserfahrungen und wie sehr mich diese Kultur verzaubert hat. Gleiches fühle ich auch heute noch. Doch die schrecklichen Umstände, in dem sich das Land befindet, viele bewegenden Begebenheiten aus meiner Dienstzeit und die teilweise Aussichtslosigkeit des Landes auf Verbesserung, drängen schon lange darauf, sie mit Dir/Euch/Ihnen zu teilen. Leider kann ich nicht auf alle Probleme eingehen, sondern werde mich mehr auf persönliche Erfahrungen, Konfrontation und Reflexionen konzentrieren.

In diesem Rundbrief werde ich zunächst kurz über das 50-jährige Jubiläum von EIRENE e.V., der Verabschiedung von Emiliano und den Wandgemälden berichten, die wichtigsten Fakten der Naturkatastrophe 2007 zusammenfassen, über das schwierige Thema „Leben in einer Machogesellschaft“ berichten und über den großen Kinderzuwachs im Heim erzählen.

Zuerst möchte ich mich herzlichst für die vielen, lieben Kommentare und das Mitgefühl, die mein letzter Rundbrief ausgelöst hat, bedanken. Das große Interesse an meinen Erzählungen erfreute mich sehr und steigert meine Motivation für die Arbeit und insbesondere für die Öffentlichkeitsarbeit.

Ich sende Euch allen die besten Weihnachts- und Neujahrsgrüße
aus dem fernen Nicaragua

Eure Sophie Streck



Kurznachrichten

1. Zwischenseminar von EIRENE und Personalwechsel

Anfang Oktober fand unser Zwischenseminar von EIRENE statt. Innerhalb von fünf Tagen bekamen wir die Möglichkeit, uns mit anderen Freiwilligen aus ganz Lateinamerika auszutauschen, alte Freunde wiederzusehen, interessante Diskussionen zu führen, über unsere Projekt und die Fortschritte unserer Arbeit zu berichten und gemeinsam Lösungen über bestimmte Probleme zu erarbeiten.

Insgesamt trafen sich 15 EIRENE-Mitglieder (Freiwillige, Entwicklungshelfer, Vorstandsvorsitzender Helmut Schmidt, Nicaragua Koordinator Gerhard Scheible und Lateinamerika- Referentin Martina Richard). Wegen der bunten Mischung aus Alter, Berufsfeld, Einsatzort und Stellung gestaltete sich der Austausch für mich besonders spannend und hilfreich. Eingeleitet wurde das Seminar durch eine glanzvolle Jubiläumsfeier in Managua, in der alle Kooperationsorganisation aus Nicaragua vertreten waren und ein interessantes Programm über die 50-jährigen Arbeit von EIRENE boten.

EIRENE-50-Jahr-Feier

Besonders aufregend für mich war, dass vier unserer Heimkinder als besondere Attraktion auftraten, ihren ersten öffentlichen Flötenauftritt hatten und auf dieser sehr förmlichen Feier begeistert gefeiert wurden.

Gerhard Scheible, mein ehemaliger Koordinater und Berater im Gastland, hat die Betreuung der Freiwilligen teilweise an die Entwicklungshelferin Bettina Hübner übertragen. Im November besuchte sie mich im Heim. Wir unterhielten uns lange über das Projekt, die Probleme und meine Arbeit. Mit der Organisation über EIRENE und der Betreuung durch die beiden Mitarbeiter fühle ich mich sehr gut aufgehoben.


2. Deutsches Frühstück

Zum Abschied von Emiliano, dem 3-Monats-Praktikant, haben wir richtig zugepackt. Wir kauften mächtig ein und bereiteten ein deutsches Drei-Gänge-Frühstück für die Kinder.

Sie aßen Müsli mit Joghurt und Fruchtsalat, belegte Wurst- Käse und Marmelade- Brötchen, die Verzierung wurde aus Käsehäppchen mit Weintrauben und Äpfeln gebastelt, zum Nachtisch gab‘s ein etwas Schokolade und zum Trinken Kakao. Vielleicht hört sich das in Deutschland alles gar nicht so spannend an, doch für die Kidis war es etwas außergewöhnliches und besonders Trauben, Äpfel, Schokolade, Joghurt, Kakao etc. Gilt in diesem Land als sehr exotisch... Die Kleinen liebten es und wollten gar nicht mehr aufhören zu essen.


3. Großes Wandgemälde

Im Juli starteten wir, Georg (ein ehemaliger Zivildienstleistender) und ich gemeinsam mit den Kindern unser erstes Wandgemälde. Im Speisesaal schillert es seither in bunten Farben und zeigt eine Märchenlandschaft mit spielenden Wald- und Dschungelkindern.

Mit Emiliano, dem Praktikant setzten wir dieses Vorhaben fort, bemalten eine Wand im Mädchenzimmer. Dort fährt seither ein langer Phantasiezug an Seen, Flüssen, einer Stadt und Bergen vorbei.

Die Kinder, Kollegen und Heimbesucher sind begeistert durch die bunte Verzierung. Besonders stolz sind die Kinder auf ihr Geschaffenes. Immer wieder bekomme ich zu hören... „bei dieser Schlage habe ich mitgeholfen“.... „diese Blume habe ich gemalt.“

Und weil‘s allen so viel Spaß gemacht hat, haben wir das nächste Bild bereits begonnen. Laßt Euch überraschen !


Farling-vor-Wandgemaelde


Und nun zu meinem Rundbrief:


Regenzeit 2007: Naturkatastrophe und Leiden der Bevölkerung

Die letzten drei Monate hatte Nicaragua schwer mit dem runterprasselnden Tropenregen zu kämpfen. Die lebensnotwendige Regenzeit, auf die wir alle mit Hoffnung gewartet hatten, entwickelte sich dieses Jahr zu einer schweren Natur- und Wirtschaftskatastrophe, die durch ihre außergewöhnliche Härte unendlich viel Zerstörung mit sich brachte.

Im Norden des Landes traten Flüsse über die Ufer, brachten folgenschwere Überschwemmungen mit sich, die Grenze nach Honduras war durch die reißenden Strömungen lange nicht passierbar, rießige Teile der Ernte wurden zerstört, durch Erdrutsche und herunterfallenden Bäume es entstanden unzählige Schäden an Häusern, die Infrastruktur brach zusammen. Wir wurden regelmäßig gänzlich durchnäßt. Dazu gesellte sich ein ungewöhnlicher kalter Wind, die eine ernsthafte Krankheitswelle mit sich brachte.

Durch die massive Zerstörung explodierten die Nahrungsmittel. Der Preis für Bohnen und andere Grundnahrungsmittel stieg sofort um mehr als 50 %. Durch die erhöhten Benzinpreise verteuerten sich Bus- und Taxipreise um über 30%. Die im vorigen Rundbrief bereits erwähnte Stromkatastrophe (teuer, Ausfall) lähmte weiterhin zunehmend jegliche wirtschaftliche Entwicklung.

Die Bevölkerung ist am Verzweifeln. Das, was für uns nur ein paar EUROs Veränderung bedeuten, kann hier die knapp bemessene Haushaltskasse der Einheimischen plötzlich vollkommen überfordern.

Insbesondere traf es das Heim: die Kinder wurden krank, Langweile kam auf, panische Angst herrschte vor weiteren Erdrutschen und herunterfallenden Bäumen (das Heim liegt in einer engen, dicht bewachsenen Schlucht). Der Weg mutierte zu einem reißenden schlammigen Fluß. Ein Durchkommen war teilweise unmöglich oder nur durch das Spannen eines Seils von einem Haus zum Anderen. Besonders klagten die Kollegen über die stetig wachsenden Preise bei gleichem Lohn.



Langsam lassen die Regenfällen nach. Wir hoffen alle auf ein schnelles Erholen und auf eine mögliche Lösung der Probleme. Pessimistische Zukunftsprognosen sprechen dagegen.


Vorurteile, Voraussagen und deren schmerzende Wahrheit

„Achtung! Du gehst in ein Land, daß keine Kritik versteht!“,

„Paß auf! Rollenverständnisse werden anders gesehen!“,

„Korruption und diktatorische Verhältnisse stehen an der Tagesordnung!“,

„Das Land ist gefährlich!“


Genau mit diesen gut gemeinten Ratschlägen reiste ich im September 2006 aus, voller Motivation und jugendlicher Naivität, um genau gegen solche Verhältnisse anzukämpfen. Und schon bald traf ich auf all das Vorhergesagte.

Die korrupte Politik, die Schwierigkeiten, bzw. die Unmöglichkeit Kritik überhaupt zu äußern, die klaren Rollenverhältnisse, die einen besonders durch den herrschenden Machismus stetig gezeigt werden, die diktatorischen Verhältnisse, die man nicht nur in der Politik, sondern am Arbeitsplatz und in den meisten Familien und in der Gesellschaft deutlich zu spüren bekommt und vieles mehr behindert jegliche positive Entwicklung.

Trotz dieser stetigen Konfrontation versuche ich stets positive Gedanken zu entwickeln, meine Hoffnung und meinen Glauben an eine glückliche Entwicklung, auf ein besseres globales Verstehen und ein Voranschreiten in der Zukunft nicht zu verlieren.

Mit einer professionellen Politik wäre vieles möglich: So könnte man die Verhältnisse im Lande zum Guten wenden, Frauenorganisationen könnten gegen den Machismus vorgehen, mit einem verbesserten Gemeinschafts- und Nationalgefühl könnte Korruption verhindert werden, durch Demokratie und Akzeptanz könnte der Glaube an die alten diktatorische Stufensysteme überwunden werden, mit Respekt und Toleranz sollte gegen Rassismus von Randgruppen gekämpft werden, uvm.

Genau diese fortschrittlichen Überlegungen erwartete ich von ‚meinem kleinen Heim‘. Wir arbeiten gemeinsam in einem sozialen Projekt und wollen zum Wohle der Kinder beitragen. Unsere Energie und unser primäres Ziel sollte der Erziehung der neuen Generation gelten. Sie sollten lernen die oben genannte Probleme zu hinterfragen und ein selbständiges Denken zu entwickeln. Doch die Realität lehrte mich das traurige Gegenteil.

Am liebsten würde ich mich ausführlich jeden einzelnen Thema widmen. Da ich die Erzählungen über die Kinder nicht vernachlässigen will habe ich mich entschieden, in diesem Rundbrief die Problematik des Machismus zu beschreiben und im nächsten auf diktatorischen Rollenverständnisse und das Leben in einer kritiklosen Gesellschaft einzugehen.


Machismus? Was bedeutet dies?
Wo sind dessen Anfänge? Hintergründe?


In Nicaragua wurde schnell deutlich: Machismus wird Kindern in die Wiege gelegt!

Mädchen werden von klein auf auf Weiblichkeit getrimmt. Sie tragen im Alltag Ballkleider und hohe Stöckelschuhe, Babies werden Ohrringe gestochen, kurz nach Geburt werden Finger- und Fussnägel bemalt, sie lernen stricken und mit Puppen zu spielen. Bekommt das Mädchen seine Regel, geht eine große Freudes-Welle durchs Haus und ihr 15. Geburtstag (gesellschaftlich gesetzte Grenze, wenn das Mädchen zur Frau wird) wird wie eine glanzvolle Misswahl gefeiert.

Die Jungs dürfen sich dreckig machen, spielen mit Autos, ihr Lieblingssport ist Fussball, sie lieben Aktionsfilme und Raufen, lernen Holzarbeiten anzufertigen und alles was sonst so zur Jungenwelt hinzu gehört.

Mehr oder weniger scheint diese Beschreibung auf alle Kinder der Welt zu passen. Der Unterschied ist schwer deutlich zu machen. Es liegt mehr in der Härte am strikten Festhalten der Rollenverhältnisse.

Schon Kleinkindern wird gesellschaftlicher Geschmack ins Ohr geflüstert, man soll die Frau mit Komplimenten umschmeicheln, aber in der Jugenwelt ganz hart mit Gefühlen umgehen.

Mehrfach ist es mir passiert, dass Mütter, ihr Baby auf dem Arm tragend oder Väter, an der Hand ihre Kleinkinder führend, mit dem Finger auf mich zeigten und wie wild auf die Kleinen einredeten:

„Sieh dir diese Frau an, wie wunderschön sie ist, und ihrer weiße Haut, groß und schlank! Genau so eine mußt du mal heiraten, dann ergeht‘s dir besser im Leben!“

Mag ein Junge Gedichte oder ist vielleicht sentimental berührt bei einer Geschichte, wird er sofort als „schwul“ bezeichnet und somit von der Gemeinschaft ausgeschlossen. Besonders diese Kinder haben es schwer, ein Herauskommen aus einer solchen Position ist fast unmöglich. Möchte ein Mädchen Sonntags eine Hose tragen oder gemeinsam mit den Jungs Fussball spielen, wird ihr dieses mit aller Kraft verwehrt und ausgetrieben.

Im Gottesdienst geht es oft um Themen wie „Falsche“ und „Richtige Liebe“, Homosexualität gilt als Todsünde, schon den Mädchen wird einprägt, auf ihre Männer aufzupassen oder es ist deren Schuld, wenn diese ins Verderben rennen.

Man traut den Kindern nicht, denkt sofort an sexuellen Kontakt, trennt sie deshalb strikt. Im Heim bleiben die Jungs in ihrem Gebiet, die Mädchen im anderen. Getrennt durch einen hohen Zaun in der Mitte. Selbst gegessen wird zu unterschiedlichen Zeiten . Die einzigen gemeinsamen Stunden sind in der Schule, in der die Kinder oft emotional vollkommen überdreht sind.

Doch selbst dort muss ich ähnliches beobachten. Einmal kam ich zu meinem Unterricht in die zweite Grundschulklasse und sah an der Tafel verschiedene Bibelinterpretationen zum abschreiben und auswendig lernen. Einer lautete:

“Die beispielhafte Ehefrau verehrt ihren Mann wie einen König, und nur die Schlechte stürzt ihn ins Verderben.“

Auch Freddy, unser zusätzlicher Englischlehrer im Heim, erreicht riesen Interesse und Erfolge bei den Kindern, mit genau dem, was die Kinder wissen wollen, bzw. was sie verstehen sollen.... „ your lips are so sweet like honey“ oder „you are the most beautiful girl in the world“.

Leicht zu erklären sind also die vielen Rufe, Luftküsse und Pfiffe, die Frauen in der Öffentlichkeit stetig über sich ergehen lassen müssen, bzw. leider oft als Weiblichkeitsbestätigung sogar fordern.

Ein tägliches Schauspiel in den Straßen Nicaraguas: Männer, die plötzlich ihre Arbeit nieder legen, um ihre ganze Aufmerksamkeit der vorübergehenden Frau zu schenken, in deren abgewandtem, ignorierendem Gesichtsausdruck doch ein deutliches, bestätigendes Lächeln zu erkennen ist.

Privat und Arbeitsleben ist schwer zu trennen, ich muß stetig mit vielen Einschränkungen kämpfen. Mit meinen männlichen Kollegen ist ein freundschaftliches Verhältnis erlaubt, allerdings muß ich sehr genau auf Körpersprache und Themen achten. Ein zu langer Blick oder eine Umarmung kann schnell falsch verstanden werden. Ein Besuch alleine bei ihm zu Hause oder eine Verabredung ins Kino ist unvorstellbar.

Freundschaften zu anderen Männern außerhalb der Arbeit sind fast unmöglich zu finden. Eine Frau gehört zu ihrem Mann, darf einige Freundinnen haben und sich ihrer Familie anvertrauen, mehr wird ihr nicht zugestanden.

Im krassen Gegensatz dazu baden sich die Männer in ihren Freiheiten: Mann ist untreu, geht aus, trinkt, raucht, spielt, macht einfach das, was er will. Mann fordert und erhält, was er wünscht, von der Frau. Wenn ihm seine Frau oder die eigenen Kinder stören, ist es gesellschaftlich akzeptiert, dass er sie verläßt, um sich eine neue, jüngere Frau zu suchen. Ein weiterer Kontakt oder gar eine finanzielle Unterstützung der eigenen Kinder ist wird nur in den seltensten Fällen gegeben.

Alle meine Kolleginnen berichten von vergleichbaren Schicksalen. Sie übertragen ihre Hilflosigkeit und Akzeptanz der Umstände auf unsere Kinder, und prägen somit deren Festhalten und Glauben an alten Rollenvorgaben.

Gruppenspiele

Wie gehe ich jedoch mit meiner Rolle, als aufgeklärter, jungen und besonders durch ihre Hautfarbe begehrten Frau um?

Selbst nach einem Jahr fällt es mir schwer, nahezu vollkommen auf Männerfreundschaften verzichten zu müssen. Die Aufmerksamkeit auf der Straße kann ich zwar meistens ignorieren oder mit Humor aufnehmen, aber oft stimmt sie mich traurig, ängstlich oder wütend. Doch egal wie oder ob ich reagiere, etwas ändern kann ich nicht. Einen zielgerichteten, starren Blick habe ich mir schnell antrainiert und trotzdem fühlt man sich stetig in der herrschenden Machogesellschaft gefangen.

Anfangs riefen die vielen Schicksalsberichte meiner Kolleginnen Fassungslosigkeit und Traurigkeit in mir hervor, heute fühle ich oft nur noch blanke Wut. Wieso lassen sie sich das alles gefallen? Wieso ist ihnen die Meinung anderer wichtiger als die eigenen Gefühle? Wieso erziehen sie ihre Kinder in dem gleichen Muster, ....

Gegen all dies vorzugehen, ist nahezu unmöglich. Oft versuche ich in gemeinsamen Gesprächen von andern Verhältnissen und Ansichten zu berichten. Soweit es mir möglich ist versuche ich es selbst vorzuleben, um ihnen die positiven Ergebnisse zu zeigen oder zumindest von diesen zu erzählen. Ich versuche, die Mädchen und Frauen in ihrer Rolle zu stärken, ihr Selbstbewußtsein zu verbessern, sie aufzurütteln und zum Nachdenken anzuregen. Außerdem kann ich durch Aufklärung und eigene Erfahrungen gegen weitverbreitete Lügen über Homosexualität, strikte Rollensysteme, Abtreibung und „falsche Liebe“ argumentieren.

Gegen die bestehenden Heimgrenzen versuche ich mit gemischten Gruppenarbeiten oder Aktivitäten vorzugehen. Zwar erhalte ich keinerlei Unterstützung, aber man läßt mir derzeit noch freie Hand und akzeptiert meine Aktionen.

Die Psychologin führte dieses Jahr erstmals einen wöchentlichen Aufklärungsunterricht für die Kinder ein. Bei den Mädchen bin ich generell bei den Sitzungen dabei und helfe die Stunden vorzubereiten und zu gestalten. Es ist spannend und aufregend zugleich die Veränderungen mit zu erleben zu dürfen, wie die Mädchen ihren Körper langsam besser verstehen.

In vielen Situationen sind mir dennoch die Hände gebunden und ich muss mich auf die kleinen Verbesserungen im eigenen sozialen Umfeld beschränken. Hauptsache ist, den Kleinen immer ein offenes Ohr zu schenken, ihnen zu zeigen, dass sie ebenfalls wertvoll und wichtig sind, daß ihre eigenen Gefühle mehr zählen als die Gefühle der andern.


Oktober/November 2007 Neuer Wind kommt auf

Im Oktober füllte sich das Heim aufs Neue. Innerhalb kürzester Zeit wurden 16 neue Kinder gebracht.

Es kam immer wieder vor, dass Kinder gingen oder neue dazu kamen, aber eine solche Menge auf einmal aufzunehmen, war eine große Herausforderung. Die Neulinge sind so unterschiedlich, wie auch ihre Vorgeschichte, Alter, Charakter und Einstellungen .

In diesem Rundbrief möchte ich über einige berichten, teilweise ihren Umgang mit dem Geschehenen beschreiben und ein wenig auf die Handlungsweisen des nicaraguanischen Familienministerium eingehen.

„ Das Ministerium ist da, es hat wieder zwei Kinder dabei.“

„ Was? Wieso? Maria (Direktorin) hat doch schon längst weitere Aufnamen abgesagt.
Wo sollen wir die denn noch hin packen?“

„Was soll ich sagen. Du kennst doch die Politik des Landes. Da müssen wir durch!“


Nach dem letzten flehenden Anruf von Maria, nicht mehr Kinder zu bringen, bekamen wir prompt sechs weitere Kinder. Das Heim ist für ca. 40 bis 45 Kinder ausgebaut. Zur Zeit leben hier 58 Kinder. Glücklicherweise sind die Gebäude groß, alte Betten konnten organisiert werden, so dass sich nur die Kleinsten ihre Schlafplätze teilen müssen. Das Hauptproblem ist in der großen Belastung des Personals.

Dona Tina, die Köchin, begann mir ihrer Arbeit vor sechs Jahren im Heim. Damals kochte sie für 25 Kinder. Es gab weniger Personal, das Tagespensum war gut zu bewältigen. Heute kocht sie für 58 Kinder, zusätzliche Personal und die Arbeiter. Sie ist älter geworden, ihre Gesundheit wurde durch die hohe Anforderung geschwächt und die Menü-Wünsche wurden aufwendiger. Dennoch steht sie täglich ab 5h morgens alleine in der Küche und verdient nicht mehr als drei Dollar am Tag (Mindestlohn einer Köchin). An den Vormittagen kann ich ihr mit Kleinigkeiten aushelfen, aber das dreifache Kochen am Tag schmeißt sie noch immer selbst.

Sie fühlt sich oft erschöpft, auf eine Rente kann sie nicht hoffen (gibt es nicht) und ihr Gehalt hält sie selbst kaum über Wasser. Die Mindestlohngrenze liegt weit unter den Bedürfnissen der Bevölkerung. Das geringe Gehalt deckt nicht einmal halbwegs ihre Kosten ab. Und genau dieses Los trifft besonders die Arbeiterschaft, genau diejenigen, die am schwersten arbeiten und deren Gesundheit am meisten leidet.

Welch‘ eine schreckliche Belastung müssen diese Menschen tragen, wenn sie geschwächt nach Hause kommen und dort ein ganz anderer Kampf los geht, nämlich das Begleichen der unzähligen Rechnungen und das Lösen vieler Familienprobleme.

Unseren vier Erziehern und der Tagesaushilfe für die Kleinsten ergeht es ähnlich wie Dona Tina. Besonders die Anzahl der Jungs ist gestiegen.

Die beiden Erzieher, Sonja und Jerry, müssen sich jetzt um 28 Jungs im Alter zwischen 6 und 17 Jahren, 5 Tage und Nächte lang kümmern.

Alles muss selbst gemacht werden. Wegen der gestiegenen Kosten ist die Putz- und Waschhilfe weg gefallen. Wird einer der beiden Erzieher krank oder im Urlaub, muss der andere alles alleine regeln. Bedingt durch die tragischen Schicksale, trägt jeder Junge eine besondere seine Eigenart,mit sich. Insbesondere die vier Neuen sind extrem verhaltensgestört und einer ist schwer behindert.

Jesus

Jesus Antonio, 7 Jahre, kam mit seinem Bruder, Arnold, 12 Jahre, Anfang Oktober ins Heim. Arnold ist ein aufgeweckter Junge, der schnell Anschluß finden konnte, intelligent und freundlich ist. Sein kleiner Bruder ist mehrfach behindert.

Wie wissen nicht, was ihm fehlt und was er hat. Erst in den nächsten Wochen sind Arztbesuche geplant. Er hat Schwierigkeiten zu sehen, sich auszudrücken, zu fassen, zu verstehen, zu essen und seine Entwicklung scheint insgesamt komplett zurückgeblieben zu sein. Bekommt er nicht das, was er will, wird er schnell aggressiv, bricht in Tränen aus oder schlägt wütend um sich. Im Gegensatz dazu hängt er sehr an Regeln und Pflichten, weist andere zurecht, hält sich peinlich genau an alles verlangte und entwickelt eine riesen Motivation, Heimpflichten zu erledigen. Er liebt es zu malen und zu singen.

Es ist einfach wunderbar ihm zusehen, wie er einen Pinsel fest mit der Faust umfaßt, diesen tief in die Farbe taucht und wild drauf los arbeitet. Wenn er fertig ist, grinst er mich frech an und schreit „Ja, Sophie, andres“ und wiederholt dieses so oft, bis ich endlich mit dem nächsten Papier komme.

Ebenfalls begeistert er uns alle mit seiner Liebe zur Musik. Seit einem Monat wohnt Eliazer (10 Jahre) bei uns; er ist ein kleines Musik-Genie. Er kennt unzählige christliche Lieder, die er mit lauter, hoher und selbstbewußter Stimme fröhlich los trällert und diese mit seiner Gitarre begleitet.

Genau in diesen Moment geht Jesus vollkommen auf. Zuerst starrt er gebannt auf die Gitarre, fängt daraufhin an zu tänzeln und manchmal bekommen wir ihn durch Motivation und zum Jubeln zum Singen. Zunächst ist er scheu. Doch durch unsere Aufmerksamkeit freut er sich und zeigt ein herzliches zurückhaltendes Lachen. Beginnt er zu singen, kommt er aus der Freude gar nicht mehr heraus. Er lacht, klatscht, tanzt und wiederholt laut einige gesungenen Wörter im Refrain.

Trotz dieser wunderschönen Momente werden wir täglich mit der nackten Realität konfrontiert. Keiner von uns ist für einen solchen Fall ausgebildet. Die völlig unterbesetzte Erzieherzahl kann diese geforderte Aufmerksamkeit und Aufsicht kaum leisten. Ich fühle mich oft hilflos und verloren, wenn ich mit den Jungs gemeinsam arbeite. Er ist sehr motiviert und will bei allem mitmachen. Doch wie bereits gesagt, kann er ebenso schnell ausflippen. Wenn ich mit 15 Jungen zusammen sitze und arbeite, alle meine Unterstützung fordern, kann ich mich ihm nur zeitweise widmen, was ihn schnell zur totalen Wut treibt und ausrasten läßt. Zusätzlich verschlechtert der teilweise brutale Umgang der anderen Kindern die Situation. Kinder können sehr brutal sein, ein Anderssein wird schnell diskriminiert. Man macht Witze über die Ausdrucksweise von Jesus, seine Handlungen und dessen Wutausbrüche, bezeichnet ihn als verrückt oder man lacht über ihn.

Oft rede ich mit unserer Psychologin über diesen Fall und versuche so viel wie möglich aus deren Tipps zu ziehen, doch wir sind uns einig, dass dieser Junge an einem anderen Ort besser aufgehoben wäre. Hier fehlen Kompetenzen, Personal, Freunde und Zeit. Er soll zunächst im Heim bleiben und eventuell später in eine Behinderten-Einrichtung kommen. Bis dahin heißt es für uns Kämpfen und hoffentlich das Richtige tun.

Im Kleinkinderbereich kam Chelvin (7 Monate) und Soraina (1 ½ Jahre) hinzu, die beiden sind nun die jüngsten Heimbewohner. Ein weiterer schwieriger Fall ist Martha (5 Jahre), deren Gesundheit schwer geschädigt wurde, durch das Alkohol Problem ihrer Eltern. Sie hat extreme Schwierigkeiten zu sprechen, zeigt viele Entwicklungsprobleme auf und ist stetig krank.

Chelvin-und-Soraina

Diese Kinder brauchen durch ihr Alter und ihre desolate Gesundheit besondere Aufmerksamkeit, die das bestehenden Personal total überfordert.

Arielys (9 Jahre) wurde Anfang November mit ihrem Bruder gebracht. Sie sucht ständig eine besondere Aufmerksamkeit. Ihr Verhalten bringt uns oft an unsere eigene Grenzen. Sie lebten sechs Jahre in einem anderen Heim, bis sie dort wegen wiederholter Regelbrüche ausgewiesen und in unser Heim gebracht wurden.

Für Arielys und drei weitere Jungs werden wir eine Sonderschule suchen. Aufgrund der Lage des Heims und dem eingeschränkten Angebot solcher Schulen in diesem Land besteht allerdings keine allzu große Hoffnung sie adäquat unterzubringen.

Eine ebenfalls erschreckende Geschichte tragen die Geschwister Uriel (6 Jahre ), Pipi (10 Jahre ) und Martha (12 Jahre) mit sich. Als ich die drei zum ersten Mal sah, war ich sofort vollkommen entzückt. Schon bald faßten sie Vertrauen zu mir und sind am liebsten den ganzen Tag um mich. Alle drei sind ausgesprochen hübsche Kinder, aufgeweckt, lustig, intelligent, gut erzogen und liebenswürdig.

Als ich deren Geschichte erfuhr, mußte ich wie schon so viele Male zuvor mein starkes Zittern unterdrücken. Uriel und zwei weitere jüngere Geschwister sind von einem anderen Vater. Lange Zeit vergewaltigte der Stiefvater die beiden Mädchen. Obwohl die Mutter von allem wußte, wollte sie ihren Mann nicht verlassen, sondern erduldete die Schändung ihrer Kinder. Bis endlich Pipi ihr Schweigen brach und dadurch auch die ältere Schwester zum Reden brachte. Nachdem die Mutter einen Alptraum mit der schwangeren Martha hatte, wurde ihr endlich die Situation bewußt und sie schickte die Kinder ins Heim.

Pipi scheint relativ gut mit ihrer Vergangenheit klar zu kommen, doch Martha trägt ein tiefes Trauma mit sich. Als sie ins Heim gebracht wurde, verdeckte sie ihr eigenes Gesicht unter einem großen Handtuch- so groß war ihre Scham. Zwar taute sie schnell auf, doch oft finde ich sie ganz apathisch da sitzen oder plötzlich in Tränen ausbrechen. Es schmerzt mich sehr, die geliebten Kinder in einem solchen Zustand vorzufinden, deren Hintergründe zu kennen und mit meiner Hilflosigkeit zu kämpfen, am Geschehenen nichts ändern zu können.

Alle drei hatten einen schweren Start. Sie vermissen ihre Mutter sehr und die eigene Stellung unter den andern „erfahrenen“ Heimkindern zu finden, ist für die geschwächte Martha besonders schwierig. Stetig gerät sie mit den anderen aneinander und diese nutzen schamlos ihre Schwäche aus.

Uriel sträubte sich lange gegen den Gedanken, im Jungentrakt leben zu müssen. Ständig forderte er mit seinen Schwestern zusammensein, schon bei der kürzestes Trennung begann er fürchterlich zu weinen. Als Miguel hinzukam, fand er schließlich einen neuen Spielgefährten und der Umzug glückte.

Aufgrund der neuen Konstellation ergeben sich zusätzliche Schwierigkeiten: einerseits müssen 16 neue Kinder an den Heimalltag und ihre damit verbundenen Aufgaben gewöhnt werden, andererseits müssen wir deren schwierigen Prozeß: sich auf neue Situation und Menschen einzustellen, verbunden mit den stetigen Rollenkämpfen (insbesondere zwischen den „neuen“ und „alten“ Heimkindern) kontrollieren und unterstützend begleiten.

Auch ich mußte mich umstellen. Seit Oktober bin ich wieder die einzige Freiwillige im Heim. Spaziergänge oder Aktivitäten sind schwieriger durchzuführen. Ich muß mich öfters auf kleinere Gruppen beschränken und abwägen, um Konfliktsituationen zu vermeiden. Nehme ich jedoch nur den einen Teil mit, fühlt sich der andere schnell vernachlässigt. Arbeite ich im Heim mit nur einer Gruppe, finden die anderen einfach keine interessantere Beschäftigung und belästigen mich und die anderen Teilnehmenden. Leider haben wir nicht immer die Möglichkeit oder die Materialien, alles mit allen zu wiederholen.

Besonders die neuen Kinder sind sehr anhänglich. Sie brauchen viele Liebe und Zuneigung und suchen nach einer neuen Bezugsperson. Bei den „älteren“ entwickelt sich schnell Eifersucht, Besitzanspruch und Konkurrenzkampf. Zusätzlich macht mir meine fehlende Bildung beim Umgang mit den schwererziehbaren und verhaltensauffälligen Kindern zu schaffen.

Genau in diesen Situationen steigt meine Wißbegierige, dieses Gebiet genauer kennenzulernen, zu erforschen, um später effektiver mit solchen Situationen umgehen zu können. Zur Zeit bleibt mir oftmals nur auszuprobieren und auf mein Gefühl zu hören. Selten treten Situationen auf, in denen ich mich vollkommen alleine in der Erzieherrolle wieder finde und schwierige Situationen direkt und alleine lösen muß. Normalerweise finde ich immer Unterstützung bei den Erziehern, der Direktorin oder am hilfreichsten, bei Cinthia, der Psychologin des Heims.

Cinthia ist eine ganz außergewöhnliche Persönlichkeit und durch ihre professionelle Arbeit nützt sie diesem Heim unbeschreiblich viel. Sie kümmert sich nicht nur liebevoll um die Kinder. Sie unterstützt uns viel, gibt wichtige Ratschläge oder klärt uns über die am besten anzuwendenden Erziehungsmethoden auf. Durch sie lerne ich viel über die Arbeit und erlebe täglich einen fortschreitenden Lernprozess, sowohl bei Kindern als auch bei mir selbst.

Glücklicherweise bringt die Arbeit auch wunderschöne, spannende und neue Erfahrungen mit sich!

Ich bin vollkommen eingenommen von der kleinen, aufgeweckten, intelligenten und ausgesprochen hübschen Kindergruppe. Studiere mit Aufmerksamkeit das Einleben der Neuen, spüre große Motivation, ihnen ein wohliges Gefühl zu geben, liebe es eine Vertrauensperson von ihnen zu werden und miterleben zu dürfen, wie sie sich langsam immer mehr öffnen. Und besonders die Möglichkeit, daß sie endlich einen Platz gefunden haben, in dem sie glücklich der Zukunft entgegen gehen können, mit einer guten Ausbildung, psychologischer Betreuung, ausgewogener Ernährung, sauberer Kleidung, einem sicheren Schlafplatz, ausgebildeter Erziehung und in viel Liebe und Geborgenheit aufwachsen können, erfüllt mich täglich aus Neue mit Freude!

Die Vertrautheit und Zuneigung, die die Kinder schnell zu mir aufbauen konnten, erstaunt und begeistert mich. Oft konnte ich beobachten, wie sie aufmerksam das Verhältnis zwischen mir und den „älteren“ Heimkindern studierten und dieses einfach kopierten, bzw. es ihnen von den anderen beigebracht wurde.

„Nein, zu ihr musst du nicht Erzieherin Sophie sagen. Sondern nur Sophie. Die ist lieb. Mit ihr malen wir, machen Ausflüge, Spiele und so weiter! Halt alles was Spass macht.“

Und genauso schnell verstanden sie, mich genau wie die andern zu belagern und mich um neue Aktivitäten anzubetteln.

Ein ebenfalls außergewöhnlich spannendes Thema ist die Vergangenheitsbewältigung und der Umgang mit dem Geschehenen.

Wie bereits angedeutet, läßt die Umgangsweise des Familienministerium zu wünschen übrig. Sie bringen die Kinder ohne voriges Einverständnis der Heimleitung ins Heim bringen, berücksichtigen längst nicht die fachlichen Kompetenzen, die das Heim leisten kann, noch teilen Sie uns jegliche Informationen über die Vorgeschichte der Kinder, ihrem psychologischen Befinden, deren Gesundheitszustand und deren Zukunftspläne mit. Nur in seltenen Fällen erhalten wir einen kleinen Report mit den wichtigsten Daten.

Eine typische Geschichte für dieses Amt war die Einlieferung der letzten Kindergruppe, die mich nachhaltig beschäftigt.

Vier Geschwister im Alter zwischen 1½ Jahren und 12 Jahren wurden abends um 7 Uhr gebracht. Niemand von uns war informiert! Die Direktorin war nicht da, der Strom war - wie immer - ausgefallen. Aufgrund der schlechten Straßenverhältnisse war es nicht möglich das Heim mit dem Auto zu erreichen. Also schickte sie der Angestellte vom Familienministerium zu Fuß auf einen sonst üblichen 20-minütigen Fußweg. Eigentlich wäre dies kein Problem, aber ohne Strom, nach den enormen Wasserschäden der vergangenen Tage war der Weg total zerstört hatte man selbst tagsüber Probleme, heil anzukommen. Die vier Kinder, die älteste ihre kleine Schwester tragend mußten im Dunklen (nach sechs Uhr ist es stockfinster) über diese holprige, zerstörte Landstraße stolpern, bis sie sich letztendlich im großen Nachtgepoltere des Heims wiederfanden. Es war gerade Abendessenszeit und das wenige Licht der Taschenlampen und Kerzen bringt die große Kindergruppe schnell zum Lärmen.

Da standen sie also. Sie hatten noch nichts gegessen, zwei von ihnen waren stark erkältet. Tina hatte kein Essen für die zusätzlichen Münder eingeplant, Betten waren nicht vorbereitet und in der Dunkelheit waren diese schwer zu organisieren. Die Entrüstung über den neuen Nachwuchs unter solchen Umständen war jedem von uns anzusehen.

Selbstverständlich nahmen wir sie herzlich auf und versuchten, das Beste daraus zu machen. Letzte Essensreste wurden zusammengekratzt, wir kümmerten uns um sie, zauberten Betten so gut es ging herbei und versorgten sie soweit möglich medizinisch.

Manchmal kommt es mir so vor, als schrecken mich solche Umstände mehr als die betroffenen Kinder. Alle vier blieben ruhig und höflich, erzählten viel, fragten wild drauf los und beantworteten alle wichtigen Fragen, die wir hatten.

Martha-Uriel-Jesus-und-Pipi

Ryan, der einzige Junge, wünschte sich sogleich bestimmt im Jungentrakt zu schlafen (normalerweise werden Geschwister zunächst nicht getrennt, um sich an die neue Situation besser zu gewöhnen) und fand sofort Freunde. Elisabeth, die Älteste, erklärte mir gewissenhaft, was ihre kleine Schwester braucht. Die Mädchen machten auch schon in der ersten Nacht Bekanntschaften mit den anderen.

Das Familienamt verließen sie mit der zaghaften Frage, wann sie denn wieder zurück dürften. Und wie schon so oft mußte ich die gefühllose Wiederholung der kaltblütigen Lüge hören... „ach, in 15 Tagen oder so“.....

Am nächsten Tag zeigte ich ihnen das Dorf. Sie redeten eifrig auf mich ein und erzählten mir alles Vorgefallene. Aufgrund des Drogenproblems ihrer Eltern wurden sie zeitweise in ein anderes Heim gebracht. Daraufhin nahm sie ihr Onkel zu sich. Dieser konnte sich wegen seiner Arbeitszeiten nur wenig um die vier kümmern. Der Stress wuchs ihm über dem Kopf. Er schlug die Kinder. Durch die massive Mißhandlung und die Vernachlässigung der Kinder wurde das Ministerium zum zweiten Mal alarmiert. Dieses Mal wurden die Kinder zu uns gebracht, deren Hoffnung nun allein in ihrer Großmutter liegt, die jedoch schwer krank ist.

Anfangs hatte ich oft Angst, die Kinder direkt auf ihre Vergangenheit anzusprechen, doch meine Erfahrung lehrte mich, keine Scheu zu haben, sondern einfach drauf los zu fragen, wenn sie nicht sowieso selbst kommen, um Vorgefallenes zu berichten.

Ihr Vertrauen erstaunt mich jedesmal auf ein Neues. Ihre Freude an meinem Interesse und die traurigen Schicksale dieser so liebenswürdigen Kinder bestärkt mich, ihnen in jeglicher Lebenslage beizustehen und sie so gut wie möglich zu unterstützen. Leider birgt dieser intensive Kontakt Unsicherheiten mit sich. Ich habe alle meine 58 Schützlinge tief in mein Herz geschlossen. Es kostet mir viel Kraft und zerrt stark an meinen Nerven deren Vergangenheiten zu kennen und diese in bestimmten Verhaltensweisen wieder entdecken zu müssen.


Straßenbegegnung

Auf dem Weg durch die Großstadt stieß ich plötzlich mit einem kleinen Straßenjungen zusammen, der mich sofort mit dem alt bekannten Satz „Da me un peso“ anbettelte (frei übersetzt: Haste mal‘ ne Mark für mich) .

Mit dem altbekannten Unwohlsein wollte ich bereits an ihm vorbei rennen, als ein zweiter Blick mich erstarren ließ. Da stand Maynor vor mir. Einer der jüngeren Brüder von Oreste, die damals zum wiederholten Male von ihrer Mutter aus dem Heim „entführt“ wurden (siehe 3. Rundbrief). Dies tat sie nicht aus reiner Mutterliebe, sondern weil sie diese weiterhin zum Geld anschaffen mißbraucht. Oreste war als einziger alleine zurück gekommen, er wollte Schulbildung, um dem schwierigen Leben auf der Straße endgültig zu entfliehen.

Und da steht er vor mir, nur mit einer kurzen Schorts bekleidet, dreckig, ohne Schuhe, beschämt schaut er auf den Boden. Ich versuche ein Gespräch zu beginnen, es ist für uns beide unendlich schwierig, Worte zu finden - die Verwirrung und Verschämtheit ist uns brennend anzusehen - mein Kopf dreht sich. Was soll ich bloß tun!?

Ich frage nach seiner Mutter, wie es ihm geht, ob er uns vermißt, ob er zurück möchte...... er scharrt mit den blanken Füßen auf dem Boden...... ja, er vermißt das Heim, da ging es ihm besser, aber er weiß nicht so genau. Seine Mutter stehe an der großen Ampelanlage, ganz in der Nähe. Plötzlich blickt er mich an, dreht sich um und rennt davon. Ich bleibe alleine bewegungslos zurück. Kurz darauf beginnen meine Gedanken in meinem Kopf zu pochen, ich spüre den Haß auf diese Frau, ihren Egoismus, auf meine Hilflosigkeit, eine ungeahnte Wut in mir beginnt zu wachsen....

Und die vielen Fragen..... hätte es nicht tausend bessere Möglichkeiten gegeben? Hätte ich ihn nicht sofort mitnehmen sollen? Die Polizei anrufen? Vielleicht direkt mit seiner Mutter reden? Ihm Essen, Klamotten, Geld geben sollen? Doch alles ging viel zu schnell - ich stehe vor der hektischen Hauptstraße, Maynor ist weg, ich bleibe allein zurück .....

Sophie Streck - 17. Dezember 2007

Vulkan-Massya
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